Balru 1 – Das große Fest und die Tigereule

 Balru 1 – Das große Fest und die Tigereule 

Weit, weit zurück in längst vergangenen Tagen, so viele Monde zurückliegend, dass sich der Mond selbst nicht mehr erinnerte, welcher seiner Vormonde das folgende Geschehen beobachtete.

Ein kleiner Mäuserich namens Balru lebte im Baum seiner Mutter in einem schönen Tal. Dort verlebte er eine schöne Mäuse-Kindheit und verliebte sich eines Tages, als er älter geworden war, in eine Mäusin aus dem Nachbartal. Doch er konnte sie nicht zur Mäusin nehmen, solange er nicht die Könige tanzen sehen hatte. So verlangte es die ewig geltende Tradition, die einen Mäuserich zu einer erwachsenen Maus machte.

Also begab er sich das erste Mal auf den weiten Weg, der ihn zu einem Ort führen sollte, den die Mäuseriche seit Mäuserichgedenken besuchen, um an der großen Hochzeit der königlich Geborenen teilzunehmen. Diese wurde alle drei Gezeiten aufs Neue vollzogen. Das Land war so groß, dass jeden Tag eine Maus hätte heiraten müssen. Daher beschlossen sie, alle drei Gezeiten den Hochzeitstanz am Wasserhimmel zu vollziehen, mit vielen, vielen Mäusen, Mäuseköniginnen, Mäuseprinzessinnen und Prinzen.

Als Balru diesen magischen Ort nach tagelanger Reise durch Tal und Wald, über Wiesen und Stein, und durch Matsch erreichte, sah er all die verschiedenen Tiere und Fabelwesen, von denen er nie gedacht oder geträumt hätte, dass es so schillernde Tiere und Wesen geben könnte. Da waren kleine Pferde, die so klein waren, dass selbst er als Mäuserich Schwierigkeiten gehabt hätte, auf ihnen zu reiten, da seine Füße den Boden berührt hätten – so klein! Vögel in den buntesten Farben, die die fröhlichsten Töne pfiffen, die er jemals gehört hatte. Es war alles wie in einem Traum, so wunderschön.

Als Balru jedoch an sich herabsah, bemerkte er, wie schmutzig und dreckig er war – von oben bis unten voller Matsch, Staub, Kratzer, Wunden und Blasen. Von dem langen, mühsamen Weg aus dem Tal der Mäuse bis zum Platz der großen Hochzeiten. Er weinte bitterlich, weil es ihm so peinlich war, so vor diesen schillernden Wesen aufzutreten, und auch die anderen Mäuse sahen alle so würdevoll und glücklich aus. Nur Balru war allein, fühlte sich schmutzig und Mäuserich elend. Er wollte nur noch nach Hause und sich in seinem Baum verstecken, in dem er mit seiner Mutter und seinen drei kleinen Schwestern lebte, und nie, nie, nie wieder an diesen schillernden, so fremden Ort zurückkehren, an dem alles so anders war, als er es gewohnt war.

Er wollte sich gerade abwenden von dem Trubel, um zu gehen, als es passierte: Eine riesige Tigereule versperrte ihm den Heimweg und fauchte und kreischte mit ihrem riesigen, alten, zerfurchten Schnabel, in dem bestimmt schon hunderte, wenn nicht sogar tausende, Mäuse verschwunden waren, auf ihn herab. Balru erzitterte vor Angst. Er wusste weder ein noch aus, weder vor noch zurück. Er war diesem riesigen, alten Vogelwesen hilflos ausgeliefert. Die Tigereule jaulte und heulte und stampfte auf den Boden, sodass sie Balru fast zertrampelt hätte mit ihren meterlangen Tigereulenklauen. Balru versuchte zwischen den Beinen hindurchzurennen, um sich in Sicherheit zu bringen, doch da sah er es: Die Tigereule hatte gar nicht ihn gemeint mit ihrem Fauchen und Jaulen und Kreischen und Trampeln und Stampfen. Sie hatte nur furchtbare Schmerzen, weil in ihrem Bein ein Stachel steckte, der so groß war, dass Balru darin mit seiner ganzen Familie und den Nachbarn hätte wohnen können.

Natürlich hatte Balru furchtbare Angst vor der Tigereule, aber er konnte auch ihre schrecklichen Wehklagen nicht mit anhören. So sprang er auf einen großen Stein und dann auf einen noch größeren und einen noch größeren, bis er so hoch war, dass die Tigereule ihn gut verstehen konnte. Er rief: “Tigereule, ich helfe dir und befreie dich von deinen Schmerzen.” Ein Mäuserich, der einer großen Tigereule helfen wollte, obwohl sie ihn doch sofort fressen würde, wenn dieser verflixte Stachel nicht wäre. Das beeindruckte die riesige alte Tigereule anscheinend so sehr, dass sie nicht nach ihm schnappte und ihn nicht auffraß. Nein, sie sagte: “Kleiner Mäuserich, wenn du das für mich tun willst, dann verspreche ich dir, werde ich nie wieder eine von euch Mäusen anrühren.” Und so sprang Balru wieder herab und hing sich schließlich mit all seinem Mäuserichgewicht und all seiner Kraft an den riesigen Stachel, der tief im Bein der Tigereule steckte. Es war schwer. Balru musste hin und her schwingen, und die Eule jaulte und kreischte vor Schmerzen. Endlich fielen Balru und der Stachel mit einem Plumps zu Boden, und der Stachel war draußen. Beinahe hätte der Stachel Balru noch getroffen beim Herunterfallen, aber er hatte ein zweites Mal Glück, und das sollte nicht das letzte Mal sein.

Die alte Tigereule bedankte sich bei Balru und beugte sich dazu zu ihm hinab. Sie lächelte so, wie eine alte Tigereule lächeln kann 🙂 und sagte: “Balru, setz dich auf mich. Ich zeige dir das Hochzeitsfest und habe noch ein kleines Dankeschön.”

Als die Tigereule und Balru bei der Festgesellschaft angekommen waren, starrten sie alle Tiere an und staunten. Eine ganze Weile ging das so, und dann sagte die Tigereule in einem lauten, tiefen Ton: “Ich bin zurückgekehrt.” Alle Mäusekönige, Mäuseköniginnen, Mäuseprinzen und Prinzessinnen knieten vor der Tigereule und Balru nieder. Dann standen sie auf, lachten, liefen und tanzten alle im Kreis um sie herum. Balru war so verwirrt. Er wusste gar nicht mehr, was los war. Da nahm die Tigereule ihn in ihre Flügelhand und sprach nochmals zu ihm.

“Balru, du warst ängstlich und fühltest dich klein und schwach, und doch halfst du mir, einem Riesen, der dich hätte fressen sollen. Du bist größer als ich, und dein Herz ist reiner als alle Wasser, in denen sich die edlen Leute spiegeln, die um uns sind. Seit Gezeiten tanzen und spiegeln sie sich, und seit Gezeiten komme ich in Gestalt der tiefsten Angst. Doch niemand – kein Krokodilpelikan, kein Elefantenhund und auch keine Gazellenkröte – schaffte es, ihre eigene Angst abzulegen, um einem Feind zu vertrauen und zu helfen. Doch du, Balru, du bist diesen Schritt gegangen, trotz deiner Angst zu sterben und deine liebe Mutter und dein Tal nie wieder zu sehen. Du sollst unser neuer großer König sein nach diesem Tanz.”

Und so geschah es, dass das Volk und die königlich Geborenen der kleineren Ländereien sich freuten und jubelten. Sie tanzten so lange, bis die Tigereule aus dem Tal der Mäuse zurückkehrte, mit Balrus Mutter, seinen drei Schwestern und seiner geliebten Mäusin, die nun seine Königin wurde. Balru herrschte von nun an über die alte Welt mit all seinem Mut und all seiner Güte.

Die Moral von der Geschichte: Einen edleren König als den Mut, den gibt es nicht.

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